Der Unterschied von Spitze und Stickerei

Der Unterschied von Spitze und Stickerei

Spitze und Stickerei? Nadel- oder Klöppelspitze, Ätz- oder Ausschneidstickerei? Der Unterschied ist nicht ganz einfach. Die unterschiedlichen Techniken der Herstellung und die Region, in der die Textilien hergestellt werden, nehmen Einfluss auf das Endprodukt. Erfahren Sie was die St.Galler Stickerei ausmacht und weshalb sie oft auch als St.Galler Spitze benannt wird.

Eine Erklärung von Textildesignerin Rahel de Lagenest, Bischoff Textil AG, St.Gallen.

Spitze oder Stickerei?

Die Spitze

Entstehung der Spitze

Eine der ältesten Spitzen aus dem 16. Jahrhundert nennt sich Reticella-Spitze. Sie stammt aus Italien und ist der Vorläufer der Nadelspitze. Sie wird auch als «Spitze der Renaissance» bezeichnet. Typisch für die Reticella-Spitze sind Rosetten- oder Sternenmuster. Die Reticella-Spitze wird hauptsächlich in Doppeldurchbruch gearbeitet. Bei der Doppeldurchbrucharbeit werden Fäden in Kett- und Schussrichtung aus dem Stoff gezogen. Das so entstandene teilweise gitterartige Gewebe wird mit verschiedenen Stichen verziert, wodurch die Reticella-Spitze entsteht. «Rete» bedeutet im Italienischen «Netz», «Reticella» ist also ein kleines Netz. Später ersetzte man den durchbrochenen Stoff mit Flechten oder Trassierfäden, die in Rasterform auf einer Unterlage mit vorgezeichneten und vorgenähten Mustern befestigt wurden. So entstand die Nadelspitze.

Die Nadelspitze

Die Nadelspitze ist eine mit Nadel und Arbeitsfaden von Hand gefertigte Spitze. Auf einer gezeichneten Vorlage aus Papier oder Pergament werden Trassierfäden befestigt, die als Grundlage für das Muster dienen. Mit dem Arbeitsfaden werden die Motive in die Trassierfäden eingearbeitet. Hierfür wird der Schlingstich verwendet. Zuletzt wird die Spitze von der Vorlage gelöst.

Eine königliche Spitze

Ab 1665 wurde in Frankreich die Point de France-Spitze in Hofwerkstätten entwickelt. Die Dessins wurden häufig von Künstlern am Hof von Ludwig XIV. entworfen und zeichnen sich durch detaillierte Pflanzen- und Architekturmotive aus. Die Muster sind dabei symmetrisch gespiegelt.

Als stilistische Weiterführung entstand zwischen 1715 und 1735 die Point de Sedan-Spitze. Sie zeichnet sich durch flächendeckende florale Motive und reichhaltige Zierelemente aus.


Venezianische Spitzenkunst

Die Gros Point de Venise-Spitze ist die charakteristische venezianische Nadelspitze, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Venedig ihre höchste Blüte erreichte. Diese Spitze zeichnet sich durch starke Reliefs mit voluminösen, floralen Mustern aus.

Zwei weitere für Venedig typische Spitzen wurden etwas feiner gearbeitet: Die Rosalinen-Spitze ist eine feine Klöppelspitze, die im späten 17. Jahrhundert im Stil des Rokoko entwickelt wurde. Sie zeichnet sich durch kleine Blumenmotive aus. Die Corallinen-Spitze ist eine flache Nadelspitze, die aus einer (flachen) Musterung mit kleinen Verästelungen besteht. Sie wurde Ende des 17. Jahrhunderts und Anfang des 18. Jahrhunderts hergestellt.

Von der Nadel zum Häkeln und Knüpfen

Die bis heute weit bekannte Häkelspitze, besteht aus Maschen, die mithilfe einer Häkelnadel und eines Arbeitsfadens fortlaufend ineinander verschlungen werden. Die Irische Häkelspitze ist dabei eine besonders qualitätsvolle Variante, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Irland hergestellt wird. Hierbei werden die Motive einzeln gefertigt – zum Teil mit Relief – und nachträglich mit einem gehäkelten Grund verbunden.

Makramee (auch Knotenspitze genannt) wird entweder aus Kettfäden eines Gewebes oder aus Fransen hergestellt. Durch das regelmässige Knüpfen entstehen ornamentale Motive.


Die Klöppelspitze

Die Klöppelspitze entsteht durch das komplexe Verflechten von Fäden, die jeweils auf einen Klöppel aufgewickelt sind. Die Klöppel sind meist aus Holz gefertigte spindelförmige Spulen. Mithilfe des sogenannten Klöppelbriefs (Mustervorlage) werden die Fäden mit Stecknadeln auf dem Klöppelkissen (einem Polster) fixiert und in Form gehalten.


Opak vom Norden bis in den Süden

Die Opake Spitze ist eine vor allem in Flandern und Nordeuropa geklöppelte Spitze, die zwischen 1620 und 1660 entstand. Hier werden die Motive mit Leinenschlag so dicht aneinandergearbeitet, dass die Spitze sehr dicht – eben opak – erscheint und nur wenige Durchbrüche aufweist.

Die Genueser Spitze, die ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts in Genua und Umgebung geklöppelt wurde, unterscheidet sich technisch nicht von den zur gleichen Zeit in Nordeuropa hergestellten Spitzen. Lediglich der Faden ist dicker, wodurch die Spitze fester wird.

Bänder aus Spitze

Eine Klöppelspitze, die aus Bändern besteht, wird Bänder- oder Litzenspitze genannt. Sie wurde ab dem 17. Jahrhundert hergestellt und erreichte im Barock (ca. 1600 bis 1720) ihren Höhepunkt. Typisch für diese Epoche ist auch die Mailänder Spitze, bei der die Bänder mit Stegen verbunden sind, sodass eine Fläche entsteht.



Die Stickerei

Gewebeveredelung durch kunstvolle Muster

Bei der Stickerei handelt es sich um eine Veredelung eines Grundgewebes. Mittels Faden und Nadel wird das Muster von Hand aufgenäht bzw. eingenäht, wodurch das Gewebe verziert wird. Wie bei der Spitze gibt es auch bei der Stickerei verschiedene Varianten.

Wie ein Scherenschnitt

Von einer Ausschneidstickerei wird gesprochen, wenn Formen aus dem Grundgewebe mit einer Schere ausgeschnitten werden, ohne dabei die Kette oder den Schuss zu berücksichtigen. Anschliessend werden die Schnittkanten mit einem Schlingstich verstärkt und der Hohlraum mit Nadelspitze verziert.

Der Effekt von kleinen Öffnungen im Stoff

Bei der Durchbrucheffektstickerei werden mittels bestimmter Sticharten die Kett- und Schussfäden so zusammengezogen, dass kleine Öffnungen entstehen. Eine besondere, feine Form der Durchbruchstickerei ist die Point de Dresde Spitze oder Point de Saxe Spitze (Dresdener Spitze). Sie ist typisch für Sachsen (Deutschland). Meist wird sie auf feinem Baumwollmusselin gearbeitet, indem durch das Zusammennehmen oder Anziehen einzelner Fäden Öffnungen erzeugt werden. Zudem wird dieser Baumwollmusselin durch Stickstiche strukturiert. Die Feinheit der Stickerei erinnert an Spitzenmuster.


Ein Zusammenspiel von Knüpf- und Nadelarbeit

Die Kombination von Knüpf- und Nadelarbeit wird als Filetstickerei bezeichnet. Die Filetstickerei ist somit eine Kombination aus der Spitze und der Stickerei. Sie ist ab dem 15. Jahrhundert nachweisbar und zählt somit zu den ältesten Spitzenarten, die sich bis heute erhalten haben. In den geknüpften Netzgrund, der ein Grundraster bildet, werden mit der Nadel Muster eingestickt.

St.Galler Spitze oder St.Galler Stickerei?

Sowohl Spitze als auch Stickerei haben jeweils eigene Herstellungsverfahren und charakteristische Merkmale. Grundsätzlich ist Spitze eine durchbrochene textile Fläche, die bereits bei der Herstellung des Gewebes als Endprodukt vorgesehen ist. Sie benötigt keinen Hilfsstoff (z. B. Klöppelspitze, Nadelspitze etc.). Die Ornamente werden direkt in das TEXTIL eingearbeitet. Eine Stickerei, ob von Hand oder maschinell ausgeführt, benötigt dagegen immer einen Hilfsstoff. Mit Nadel und Faden werden kunstvolle Muster in feinen Stichen direkt auf den Hilfsstoff gestickt. In der «Stickereisprache» wird der Hilfsstoff auch Stickgrund genannt.

Die St.Galler Spitze sieht auf den ersten Blick zwar aus wie eine Spitze, ist aber eine Ätzstickerei. Bei der maschinellen Herstellung dieser Art von Stickerei wird der Stickgrund, auf dem die Stickerei entsteht, nachträglich durch ein chemisches oder physikalisches Verfahren entfernt. Das Ergebnis wird auch als Ätzstickerei oder Guipüre-Spitze bezeichnet und kann einer Spitze ähneln. St.Gallen wurde im 19. Jahrhundert vor allem durch seine Stickereien weltbekannt.

Diese Seite entstand in Zusammenarbeit mit dem Textilmuseum St.Gallen. Fotos: Textilmuseum St.Gallen, © Michael Rast / © Ali Harrak